Rückenwind, Heike Müller
Von Stefanie Hoch
Die Ausstellung «Rückenwind» umfasst die neuesten Werke von Heike Müller, die meisten sind in den letzten drei Jahren entstanden. Prägend waren die sieben Wochen, die Heike Müller 2020 in Den Haag verbracht hat. Es war auch eine Reise in die Vergangenheit, denn 1993 hatte sie in Amsterdam Malerei studiert.
Letztes Jahr in Den Haag begann sie zunächst mit kleinen Tagebuchskizzen», wie sie sie nennt, den Alltag einzufangen: Interieurs und Strassen, Uferszenen, Menschen, gern Männer, noch lieber Surfer. Mit Bleistift und weissem Stift erscheint die Welt auf glühendem Orange, auf dem sie die Wirklichkeit aus dem Papier hört. Stadt am Wasser. Stadt und Meer.
Es sind orangene Papierreste, die sie nach Holland mitgenommen hatte. Dieses für sie so typische Orange – doch zuerst zum Weiss: In den Zeichnungen gipfelt der Alltag im Weiss der beiläufigen Details, fein schraffiert die Schaumkronen, die T-Shirts und auch die nassen Rücken. Gegenüber auf der Wand erheben sich auf grossen Gemälden die Bergrücken der Alpen, hier ist der Schnee weiss, Nebel und Wolken. Aber auch die Blüten auf einer Alm, die als Striche das Postkartenmotiv übersäen. Das Weiss verselbständigt sich, wenn Wolkenfetzen die Landschaft zudecken, die Bilder mit grosser Dynamik einnehmen, sie verfremden. Verfremdet wird die Landschaft auch durch andere „Störfaktoren“: Reflexionen der Zugfenster, aus denen heraus Heike Müller die Landschaft fotografiert hat. Fotografien – wie so oft beginnt ihre Malerei mit solchen.
Gleich hier im ersten Raum stehen sich die beiden grossen Gruppen im Werk von Heike Müller gegenüber: zum einen findet sie ihre Inspiration in alten Fotografien, Postkarten, eigenen Aufnahmen, aber auch Skizzen und Gemälden anderer Künstler, Bilder aus Alben vom Flohmarkt und dem Internet sowie Filmbilder – sie sucht ganz bestimmte Momente einer kollektiven Bildgeschichte, um sie zum Ausgangspunkt malerischer Strandwanderungen, Familienaufstellungen oder anderer Beobachtungen zu nehmen.
Die andere grosse Gruppe bilden in den letzten Jahren Gemälde, die sie aus der direkten Anschauung malt: das echte Leben, aus Fleisch und Blut, unmittelbar eingefangen, das ist neu und begegnet uns in der Ausstellung in zwei Serien – den Tagebuchskizzen aus Den Haag und den Männerportraits, die im Kabinett versammelt sind: grössere Gemälde, die sie in meist dreistündigen Sitzungen malt.
Malen unter Endorphin
Was sich so einfach darstellt, ist tatsächlich noch immer ungewöhnlich: Frauen, die explizit Männer malen – keine Verwandten, keine Adeligen oder Politiker, einfach gut aussehende Männer. Jahrhundertelang malten Maler Frauen, als Muse stand die vorzugsweise junge Frau symbolisch für die Inspiration. Frauen sollten nicht malen, sie wurden gemalt. Und als Frauen im 19. Jahrhundert endlich Zugang zu den Akademien hatten, war man der Überzeugung, dass man ihnen in den Aktzeichenkursen auf keinen Fall nackte Männer zumuten könne. Noch 1985 stellten die Guerilla Girls fest, dass im Metropolitan Museum in New York weniger als 5% der Werke von Künstlerinnen stammen, aber 85% der nackten Gemalten Frauen sind.
Heike Müller «gendert» endlich die Malereigeschichte. Sie unternimmt den Versuch, die Entstehungsweise und die Wirkung von Männerportraits, die explizit von einer Frau gemalt wurden, zu überprüfen. Ihr Auswahlkriterium ist die Attraktivität, um konsequent, in Serie, quasi analytisch, Männer für sich selbst als Musen zu «verwenden» und darzustellen. Was dabei letztlich zählt, ist die Umkehrung der Norm und sich selbst als Malerin den Moment zu gönnen: Malen unter Dopamin und Serotonin. Neugier, ob es gelingt, die Faszination auf die Leinwand zu übertragen, während Endorphine durch die Fingerkuppen rauschen.
Sie erzählt aber auch vom Druck: Innerhalb von drei Stunden soll etwas gelingen, das mehr ist als ein Pinup. Publikumsfrage: Verspüren malende Männer diesen Druck gleichermassen? Was Malerinnen und Maler verbindet: die Frage, wie die Schönheit auf die Leinwand kommt. Doch zurück zu den Bergrücken.
Flüchtige Glücksmomente
Alpen und Meer fassen die Ausstellung ein: In Raum 1 sind die Berge menschenleer, im entferntesten Raum die Nordsee. Dort Seestücke mit Wellen, die sich am Strand brechen. Die Wolken erinnern eindeutig an den barocken Niederländer Jacob von Ruisdael. Hier hat die Malerin selbst ihre Vorlagen fotografiert – auch sie surft gern, durch die Bildgeschichte. Sie greift in den Fundus vorhandener Bilder, um sie auf die Leinwand zu überführen. Und auch, um sie auf der Leinwand zu überführen, sie zu entlarven, sie durch Umkehrung der medialen Vorzeichen auf ihre Wirkweise hin zu befragen, uns in unserer Wahrnehmung und unseren Sehnsüchten, mit denen wir Bilder machen und anschauen, zu hinterfragen.
Viele ihrer Bildvorlagen zeigen Orte der Leichtigkeit, der Lebensfreude. Menschen am Strand und in Blumenwiesen. Die Malerei schwelgt in Blüten und der Darstellung der Gischt, in der Widerspiegelung der Farben in den Fluten. Egal ob Fotoalbum oder Bild aus dem Internet – weil den fotografischen Vorlagen das Momenthafte innewohnt, atmet auch nun die Malerei jene Spontanität, das Glück des flüchtigen Augenblicks. Und das Wissen darum, dass diese Menschen längst Geschichte sind, verstärkt die Vorstellung der Vergänglichkeit.
Manche Wolkenflecken erinnern an Ferdinand Hodler, Blumentupfer an Cuno Amiet, orange-hellblaue Himmel an Adolf Dietrich oder Max Ernst, die weissen Wasser an japanische Tuschzeichnungen, Mangas oder Computeranimationen.
Heike Müller verallgemeinert bestimmte Bildelemente durch breite Pinselstriche, sie anonymisiert Gesichter, wodurch wir uns mit den Dargestellten identifizieren können und die Familienkonstellationen zu unseren eigenen werden – oder die Frau am Strand zu unserer Wunsch-Frau oder unserem Wunsch-Ich. Wie jene Zeichnung vom Flohmarkt, ein Akt einer liegenden Frau. Die alte Zeichnung von Theo Berendonk liess alles offen, nur Umrisse hatte er auf das Blatt geworfen. Ob die Frau sich wie Edouart Manets Olympia auf einem Bett ausstreckte oder draussen wie bei seinem Frühstück im Grünen? Deshalb begegnet uns Heike Müllers Frau nun einmal auf einer rotgestreiften Matratze, einmal am Strand, die überschlagenen Füsse viel roher dargestellt als jene von Manets Dame, beinahe holzschnittartig wie die der Brücke-Expressionisten
Risse in der Idylle
Doch dann sind da diese Steine am Strand, die vom Orange hinterleuchtet plötzlich beinahe psychedelisch aufblitzen und uns in die Jetztzeit holen. Und darin liegt die spezifische Qualität der Bilder von Heike Müller: Ihr Rückgriff auf Bildvorlagen löst Erinnerungen, nostalgische Gefühle, Sehnsucht in uns aus. Zugleich verfremdet sie Elemente und überführt sie durch die beiläufig wirkende, doch höchst subtile Malweise in die Gegenwart, wo sie sich in unserer Phantasie verselbständigen. Nicht nur das Orange, auch die Schatten, lang wie aus den unendlichen Nachmittagen der Edward Hopper-Gemälde, nur weniger realistisch, vielmehr mit beunruhigendem Eigenleben. Hier taucht etwas Fremdes auf: Den Berghütten in den Alpen fehlt alles Liebliche, im Gegenteil, sie wirken verschwiegen und abweisend, aber in dieser Ambivalenz ehrlicher als all die Postkartenansichten.
Die Idyllen auf der Wiese oder am Strand sind nicht nur flüchtige Paradiese der Vergangenheit, sie sind vielleicht nie so idyllisch gewesen, wie wir es uns wünschen. Das Paar auf der Blumenwiese, so romantisch es in Blüten versinkt, so unbehaglich wirkt der etwas zu korrekte Haarschnitt des Mannes, der die 1930er-Jahre als Entstehungszeitraum der Vorlage vermuten lässt. Dann wirkt das Orange plötzlich auch aggressiv. Zugleich rückt es uns die Menschen nahe. Ihre Welt war nicht schwarzweiss, sie war genauso farbig wie unsere.
Immer wieder dieses Orange, das die Bilder durchglüht. Es ist eine Grundierung aus Acryl, weil dieses Orange gar nicht als Ölfarbe existiert. Darüber dann Öl, durch das der Grund hindurchscheint, oft sind die Kanten orange, was den Bildern auf weissen Wänden eine Art Aura verleiht.
Das Orange glimmt vor Energie, surrt wie ein inneres Leuchten, wie eine Kernschmelze, die beständig im Innern dieser Bilder von Statten geht, nur weniger gefährlich. Aber doch auch ein bisschen – es ist kein harmloses Sonnenorange, vielmehr ein neonartiges Signalorange, das auch für Gefahr steht. Es holt die nostalgischen Motive aus dem gedämpften Sepiabraun der Vergangenheitsverklärung.
Von weit her ein Leuchten
So tauchen uns die Gemälde von Heike Müller in ein Wechselbad aus Nähe und Distanz. Zeitliche Distanz und Verfremdung durch die forsche Malweise bei gleichzeitiger emotionaler Wärme und Nähe. Gelegentlich übermalt Heike Müller auch alte, gefundene Bilder. Nicht um zu zerstören, sondern um sie zu erweitern, sie in eine irritierende Zwischenwelt zu überführen. Sie bewegt sich mit ihrer Arbeit fliessend durch die Foto- und Malereigeschichte, macht sie durchlässig. Die Eigenschaften des einen Mediums bringen im anderen plötzlich neue Aspekte zum Vorschein. So kann der eine, faszinierende Moment einer Fotografie, was Roland Barthes «punctum» nennt, in den Gemälden zum «memento mori» werden, das Populäre einer Postkarte zum ganz intimen Moment, das persönliche Fotoalbum zum Symptom des kollektiven Bildgedächtnisses.
Die Intention der Fotografie – zu erinnern, festzuhalten – wird in Heike Müllers Malerei zum Sprungbrett der Imagination. Hier zeigt die altmodische Malerei was sie im Gegensatz zu all den neuen Bildtechniken vermag: auf dem Fundament unseres Bildgedächtnisses die Fiktion zu beflügeln. Heike Müller beherrscht diese Medienwechsel mit traumwandlerischer Sicherheit. Ihre Bilder sind voll magischer Momente und Gestalten, gesichtslos aber lange Schatten werfend, fremd und doch allzu bekannt, beunruhigend vertraute Wiedergänger der Bildgeschichte.
Heike Müller, geb. 1970 in Winterthur, aufgewachsen in Frauenfeld, lebt in Basel.
- November 2021